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„MEHRHEITSENTSCHEIDUNG“ VERSUS MEHRSPRACHIGKEIT AN ÖFFENTLICHEN SCHULEN: Artikel der Präsidentin des Panhellenischen DeutschlehrerInnenverbandes Stephanie Bettina Alwine Thiele in der Zeitung „AVGI“ am 31.07.2016


„Mehrheitsentscheidung“ versus Mehrsprachigkeit

an öffentlichen Schulen

 

* Stephanie Bettina Alwine Thiele

In Griechenland haben Fremdsprachen nach wie vor einen hohen Stellenwert  im Bildungsbewusstsein der Bürger. Ebenso hat sich die Einsicht fest etabliert, die Erlernung fremder Sprachen müsse möglichst früh beginnen.

Diese Überzeugung steht im Einklang mit den neuesten Erkenntnissen im Bereich der Fremdsprachendidaktik und  der psychopädagogischen Wissenschaften sowie mit den europäischen Standards für den Fremdsprachenunterricht.

Danach fördert die frühzeitige Erlernung von Fremdsprachen nicht nur die Aneignung der jeweiligen Fremdsprache, sondern auch die umfassende und allseitige Entwicklung der Persönlichkeit der Kinder. Denn über die Sprache kommen sie in Kontakt mit neuen Kulturen und Sichtweisen auf die Welt, erweitern ihren geistigen Horizont und entwickeln Kompetenzen, wie Empathie und Toleranz für das Anderssein, was als absolut notwendig für die harmonische Koexistenz in den heutigen multikulturellen Gesellschaften erachtet wird.

Zugleich stellen gute Fremdsprachenkenntnisse die Ausrüstung sine qua non und Mindestanforderung par excellence dar, für den Zugang sowohl zum griechischen als auch zum europäischen Arbeitsmarkt, da „[sie] als Grundkompetenz betrachtet werden, die jeder EU- Bürger  erwerben  sollte,  um  in  der  europäischen Bildungsgesellschaft seine Ausbildungs- und  Beschäftigungschancen zu erhöhen, insbesondere  durch  die  Inanspruchnahme  der Personenfreizügigkeit.“

Der griechische Staat hat sich zur Umsetzung einer Politik zur Förderung der Mehrsprachigkeit verpflichtet, wie sie die Europäische Union verfolgt. Das primäre Ziel dieser Politik ist: „jeder europäische Bürger soll noch zwei weitere Sprachen neben seiner Muttersprache beherrschen" (EU-Richtlinie 1 + 2), und um das zu erreichen, "sollen Kinder bereits im frühen Alter zwei Fremdsprachen in der Schule lernen.“

In diesem Zusammenhang wurde bereits während des Schuljahres 2005-2006 in einem Pilotprojekt die zweite Fremdsprache (Französisch / Deutsch) an 219 Grundschulen eingeführt: Für 15.000 Schüler der fünften und sechsten Klasse bedeutete das die Umsetzung des einschlägigen Programms  des Pädagogischen Instituts für die Dauer von zwei Jahren. Die Akzeptanz des Projekts führte letztlich zur Einführung der zweiten Fremdsprache im Primarschulwesen, so dass nunmehr an 3. 688 Grundschulen (mit 4 und mehr Lehrerstellen) ca. 170.000 Schüler|nnen in ganz Griechenland entsprechend unterrichtet werden.

Doch trotz der offiziellen Übernahme der Europäischen Sprachenpolitik und aller positiven Schritte des griechischen Staates bezüglich des Fremdsprachenunterrichts, hat die Realität gezeigt, dass -im Gegensatz zu den vielversprechenden Ankündigungen der jeweiligen politischen Führung- der Fremdsprachenunterricht bis zum heutigen Datum keine strategische und nationale Priorität erlangt hat. Er wird eher als "notwendiges Übel" behandelt, mit dem Ergebnis, dass auch die Fremdsprachenpolitik in Griechenland ohne Vision und Planung, bruchstückhaft, oft widersprüchlich und wie eine Pflicht, der man sich entledigen muss, ausgeübt wird.

Bezeichnend, jedoch leider nicht das einzige Beispiel, für  die o.a. Einstellung zum Fremdsprachenunterricht ist der jüngste Ministerbeschluss (Amtsblatt 1324 Band B / 11.05.16) und das zugehörige Präzisierende Rundschreiben (Nr. 87 776 / D1 / 30.05.2016) für die ganztätigen Einheitsgrundschulen: Darin wird die bisherige individuelle Wahl  der 2. Fremdsprache den Fünftklässlern der Grundschule entzogen und durch die klassenweise Mehrheitsentscheidung ersetzt.

Dies ist eine pädagogisch und didaktisch willkürliche und sozial ungerechte Entscheidung, die nun in brutaler Weise den -trotz aller vorwiegend organisatorischen Schwierigkeiten- erfolgreichen Verlauf des institutionalisierten  Unterrichts der Zweiten Fremdsprache an Grundschulen einstellen wird.

Denn aus den verfügbaren amtlichen Statistiken –nach Auswertung der Wahlentscheidungen der Viertklässler für die zweite Fremdsprache- geht hervor, dass demnächst mehr als ein Drittel der Schüler|nnen nicht in der Sprache ihrer Wahl unterrichtet werden, auch wenn dafür ein Lehrer zur Verfügung stehen sollte.

Zur gleichen Zeit wird der Unterricht künftig unter Bedingungen der Überfüllung abgehalten, da die Zahl der überbelegten Räume für den Unterricht der Zweiten Fremdsprache infolge des o.g. Ministerbeschlusses  zunehmen wird. Unter diesen Verhältnissen kann sich keine sprachliche Kommunikation entwickeln. Dies ist leicht einzusehen, wenn man die einschlägigen Untersuchungen berücksichtigt, wonach auf jeden Lerner -Anfänger oder Fortgeschrittenen- bei großen Klassen (mehr als 20 Schüler) je Unterrichtsstunde nur 1 Minute an fremdsprachlicher Kommunikation entfällt.

Zu den oben genannten Folgen kommt noch die Zahl der extrem negativen Folgen für Eltern und Erziehungsberechtigte von Kindern, für die Lehrer und die  Schulen selbst sowie die aufsichtführenden Primarschuldirektionen hinzu. Erstere werden zum zigsten Mal erleben müssen, wie ihre familiäre  Bildungsplanung und ihr Budget zunichte gemacht werden, während die Lehrer sich mit der Schrumpfung ihres Arbeitsgegenstandes und der deutlichen Verschlechterung des institutionellen Rahmens, in dem sie ihre Arbeit verrichten, auseinandersetzen müssen.

Die Leiter|nnen der einzelnen Schulen werden mit  ernsthaften Problemen bei der Koordination der gezwungenermaßen mobilen Lehrkräfte sowie der Erstellung von Stundenplänen für die Schulen ihrer Zuständigkeit konfrontiert sein. Auch die lokalen Primar- und Sekundarschuldirektionen werden aufgrund des Ministerbeschlusses nicht in der Lage sein, dienstliche Fragen des Unterrichts der 2. Fremdsprache  rechtzeitig zu planen sowie das entsprechende Lehrkräftepotenzial der Sektoren PE05 PE07 Französisch und Deutsch effizient zu verwalten.

Obwohl Platzgründe es nicht erlauben, sich weiter in alle Aspekte des Themas zu vertiefen, ist es doch sehr beunruhigend  und gleichzeitig sehr traurig festzustellen, dass solche Praktiken, welche das Treffen von Schlüsselentscheidungen -und dazu noch im neuralgischen Bereich Bildung-  in Abwesenheit und gegen die wirklichen Bedürfnisse der Empfänger ermöglichen, ununterbrochen fortgesetzt werden. Dadurch entstehen nämlich zahlreiche Probleme und eine unnötige Unruhe unter der Lehrergemeinschaft.

Vor allem, wenn diese Entscheidungen von bestimmten Zentren und aus Gründen getroffen werden, die wenig mit dem Thema Fremdsprachenunterricht zu tun haben, dessen Aufwertung Herr Nikos Filis, der amtierende Minister für Bildung, in allen Tönen angekündigt hat.

Angesichts der Krise und der gesellschaftlichen Nachfrage nach qualitativem und zertifizierbarem Fremdsprachenunterricht durch das Öffentliche Bildungssystem ist eine wirksame, nicht vordergründige, kohärente Sprachenpolitik mehr denn je dringend notwendig.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine sorgfältige und langfristige Planung auf allen Stufen des Bildungssystems erforderlich, die auch an dem einschlägigen Curriculum für Fremdsprachen ausgerichtet sein muss.

Voraussetzung ist natürlich der Wille und die Vision zur praktischen Umsetzung. Die ständigen Widersprüche im Bereich des Fremdsprachenunterrichts an öffentlichen Schulen lassen jedoch wenig Raum für die Hoffnung auf eine "Erfolgsgeschichte". Denn die häufigen "Schocks", die diesem Bereich versetzt werden, erinnern eher an eine "antike Tragödie", während die  Leidtragenden –seit Jahren „Zuschauer der gleichen Vorstellung "- sich fragen, ob und wann die ersehnte „Katharsis“ wohl eintritt.

 

* Frau Stephanie Bettina Alwine Thiele ist Deutschlehrerin im griechischen staatlichen Primarschulwesen, M.Ed., Diplom-Germanistin und Diplom-Übersetzerin,   Präsidentin des Panhellenischen DeutschlehrerInnenverbandes (PDV  -www.deutsch.gr)

 

Der Artikel wurde in der Zeitung „AVGI“ am 31.07.2016 veröffentlicht. Der griechische Originaltext ist unter http://avgi.gr/article/10839/7326689/-pleiopsephiko-kai-demosia-xenoglosse-ekpaideuse abrufbar.

 

Für die Teilnahme an der Online-Petition des PDV zur Aufhebung des Ministerialbeschlusses, durch den die freie Wahl der zweiten Fremdsprache abgeschafft wird, klicken Sie bitte auf folgenden Link:

https://secure.avaaz.org/el/petition/Ypoyrgo_Paideias_Ereynas_kai_Thriskeymaton_k_Nikolao_Fili_Anakaleste_amesa_tin_Ypoyrgiki_Apofasi_F1265770691D12642016/edit/